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Deutschland

Matthias Mesletzky • März 17, 2021

Aachen/Maastricht/Lüttich

Im Dreiländereck Deutschland/Holland/Belgien

Es war eine von vielen Kurzreisen, die auf diesen Seiten eigentlich keine weitere Erwähnung finden sollten, so tausendfach werden sie meist über ein verlängertes Wochenende veranstaltet. Ich halte sie dennoch für erzählenswert, weil ich selten so anschaulich beobachten konnte, wie sich das Bild Europas rasend schnell und unumkehrbar verändert.

Das Ziel waren drei altehrwürdige Städte, in der Distanz nah beieinander, aber dennoch in drei verschiedenen Ländern gelegen. Sie befinden sich in einer Region, die einmal den Mittelpunkt eines längst vergangenen Weltreiches bildeten. Karl der Große wurde hier zu Weihnachten des Jahres 800 zum Kaiser seines riesigen Frankenreiches gekrönt. Eigentlich war er es, der mich für ein paar Tage hierher führte.

Heute liegen diese Städte im Dreiländereck Deutschlands, der Niederlande und Belgiens. Und genau hier kann man sich die unterschiedliche Geschichte neuerer Zeit anschaulicher kaum vor Augen führen.


Erste Station ist Aachen mit dem imposanten Kaiserdom, in dem die Gebeine Karls seit 1200 Jahren so hübsch in einem goldenen und mit Edelsteinen besetzten Sarkophag aufgebahrt sind. Von seinem im Original erhaltenen Thron, auf dem nach ihm noch 31 römisch-deutsche Könige gekrönt wurden, regierte er ein europäisches Reich, in dem Deutschland, Frankreich und ein großer Teil Italiens noch keine eigenständigen Herrschaftsbereiche waren. Erst seine Enkel teilten das Reich unter sich auf und die erwähnten Länder entstanden, natürlich mit den unvermeidlichen Kriegen, die die Menschheit schon immer zur Ausbildung nationaler Territorien und Identitäten gebraucht hat.

Nun geht es mir in Aachen wieder so wie in vielen deutschen Städten, deren unverwechselbare Altstädte im Bombenhagel der Alliierten untergegangen sind. Die noch in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts so flächendeckend vorhandenen Fachwerkhäuser haben den Feuersturm englischer und amerikanischer Bomben nicht überstanden. Das Holz der Balken brannte nur zu gut, womit das schreckliche Kalkül von Bomber-Harris zur Vernichtung auch der Zivilbevölkerung mit einem ausgeklügelten Feuersturm tausendfach aufgegangen ist. Nur einige weniger zerstörte und oft rein steinerne Gebäude, meist solche aus der Gründerzeit des letzten deutschen Kaiserreiches, hat man in den Jahrzehnten nach dem Krieg wieder aufgebaut. Sie stehen heute so seltsam verloren zwischen gesichtslosen Fassaden der fünfziger und sechziger Jahre. Leider noch viel weniger historisch bedeutsame Fachwerkhäuser wurden von Grund auf rekonstruiert, um einer neu entstandenen „Altstadt“ wenigstens einen kleinen Bezug zur Bebauung des Mittelalters zu geben. Gut, die Struktur der Straßen und Gassen hat man belassen und so gibt es viele mehr oder weniger anschauliche Innenstädte. Fußgängerzonen mit den meist immer gleichen Geschäften machen den Besuch solcher Stadtzentren ganz angenehm, aber leider auch austauschbar. Die Werbung der Geschäfte, Restaurants und der Cafés mit ihren Außenplätzen setzten wenigstens noch einige Farbtupfer. Unwohl fühle ich mich nicht, doch ein Gefühl der Trauer lässt mich meist lange nicht los, wenn ich mir mit viel Phantasie vorstelle, wie hübsch alte deutsche Städte einmal waren. Für mich macht Aachen hier keine Ausnahme.

Der Dom, auch als Münster oder Marienkirche bezeichnet, sieht heute so aus, als wenn die Bomben ihn gänzlich verschont hätten. Er steht mitten in einem Gewirr von Sträßchen und Gassen der Altstadt, umgeben von netten kleinen Plätzen. Wunderbar restauriert und als architektonisches Gesamtwerk nicht vergleichbar mit den gotischen Domen in Köln, Ulm oder Freiburg. Das erhaltene karolingische Oktogon und das Westwerk der Königspfalz sind einfach um einiges älter und strotzen nur so von Geschichte und Geschichten. Man sollte ihn einmal gesehen haben. Ebenso beeindruckend die zugehörige Schatzkammer, mit Gold und Edelsteinen nicht sparend. Die Räume auf drei Etagen ohne Fenster betritt man durch eine einzige dicke Tresortür. Ein Gefühl von Platzangst ließ mich trotz der herrlichen Schätze nicht ganz los.

Das erst im 14. Jahrhundert errichtete imposante Rathaus war geschlossen, weil hier immer mal wieder sehr wichtige Preise vergeben werden. Karl selbst hat es nicht mehr gesehen.

Man mag es ja als bereichernde Vielfalt empfinden, wenn an einem Vormittag mitten in der Woche die gesamte Altstadt von mehr oder weniger lärmenden südländischen Jungmännergruppen durchstreift wird. Mir bereitet es Unbehagen, wenn ich mir aufgrund ihres Benehmens vorstelle, mit ihnen aneinander zu geraten. Junge und auch recht zahlreiche Kopftuchfrauen mit Kinderwagen und oft mehreren Kindern runden das neue Erscheinungsbild der so alten und ehrwürdigen Stadt Aachen heute ab. Die Arbeit und das Studium der eingesessenen Bevölkerung werden auch ein Grund dafür sein, dass die neuen Bewohner das Stadtbild um diese Zeit so dominieren. Aber hin und wieder sehe ich sie auch hier noch, die im Sommer nur leicht bekleideten, jungen und selbstbewussten weiblichen Schönheiten, die, wie ich finde, so viel besser in das Bild einer gutgelaunten europäischen Stadt passen.

Beim entspannten Besuch der Stadt nutze ich jede Pause als Gelegenheit, um im Netz mehr über Karl, der schon zu seinen Lebzeiten „Vater Europas“ genannt wurde, zu erfahren. Wie erschafft man ein so großes Reich mit Verkehrsmitteln und auf Wegen, die Monate erforderten, um von einem Ende zum Anderen zu gelangen. Er schütze militärisch vor allem seine Außengrenzen, als er sein Reich als groß genug empfunden hatte. Und er wurde fast friedlich, als er nach vielen Schlachten die aufsässigen Sachsen mit einem Schwur auf sein Kaisertum und auf seine Religion unterwerfen konnte.

Lange her, aber eine Parallele zum heutigen Deutschland ist mir dann doch aufgefallen. Die Existenz einer führende Religion, wenn eine solche denn überhaupt sein muss, und eine Lebenskultur, die aus einer solchen hervorgegangen ist sowie der Schutz der Außengrenzen, scheinen mir noch immer ein Garant für eine staatliche Einheit und für ein friedliches Miteinander einer Bevölkerung zu sein, deren historische Wurzeln von einer Mehrheit als erhaltenswert erachtet werden.


Die nächste Stadt, die ich besuche ist Maastricht, schon in Holland gelegen. Von Aachen kommend und mit einer Geschwindigkeit 130 km/h auf der Autobahn über eine nicht sichtbare Grenze zu fahren, finde ich schon toll. Eine Errungenschaft Europas, die mir gefällt. Zu viele nervende und oft sehr lange dauernde Grenzübertritte habe ich in meinem Leben schon absolvieren dürfen.

Die meisten Gebäude stammen aus einer Bautätigkeit, als Kaiser Napoleon diesen Teil Hollands länger besetzt hatte. Man wähnt sich in einer französischen Stadt, in der es kaum Fachwerk, aber viele Fassaden aus grauen Natursteinen gibt. Die Maas, auf weiten Strecken Grenzfluss zu Deutschland, fließt mitten durch die Stadt. Eine Erinnerung kommt auf an die nicht mehr gesungene erste Strophe unserer Nationalhymne: …“von der Maas bis an die Memel“… Deutschland ist hier immer noch nicht weit weg, doch die Memel liegt heute weiter denn je entfernt von einer deutschen Grenze weit im Osten.

Man sollte von einem Besuch von Maastricht Abstand nehmen, wenn man eine modebewusste Frau dabei hat. Ich habe noch nie in meinem Leben eine Stadt gesehen, die so viele Klamottenläden dicht bei dicht, phantasievoll neben-, über- und hintereinander angeordnet hat wie Maastricht. Wie selbst in abgelegensten Gassen hier eine Boutique noch ihr Geschäft machen kann ist mir ein Rätsel. Die Gesichter von Männern, die vor den Läden auf ihre einkaufenden Frauen warten, sprechen Bände. Ich erinnere mich an solche Zeiten meines Lebens.

An der noch relativ jungen Universität scheinen viele kaufkräftige junge Leute zu studieren, die für Umsatz sorgen. Das ganze Stadtbild ist geprägt von Studenten aus allen Teilen der Welt und zeigt eine so sichtbare Vielfalt intelligenter Gesichter, die mir richtig gefällt. Hier ist man stolz auf einen der höchsten Ausländeranteile einer höheren Bildungsanstalt in ganz Holland. In den vielen Straßencafés wuselt es vor Sprachen, bei denen ich nur raten kann, aus welchen Ländern sie stammen. Kopftücher habe ich an einem ganzen Besuchstag in der Stadt nur zwei gesehen, ob sie Frauen gehörten, die an der Universität studierten, konnte ich nicht ergründen.

Ich weiß, dass es auch in den Niederlanden Städte gibt, in denen es durch eine relativ ungesteuerte Migration in der Vergangenheit mehr Probleme gibt. Noch immer besitzt Holland Kolonien, die heute etwas netter Überseegebiete genannt werden. Von hier stammen sehr viele Menschen, die man in Amsterdam und in Rotterdam beobachten kann. Doch Maastricht vermittelt ein Bild, das man sich von ganz Europa wünschen würde. Wenn Vielfalt mit Bildung und gegenseitiger Toleranz zu tun hat, soll sie mir recht sein.


Um nach Lüttich zu kommen wählte ich einen Weg über die Dörfer. Ich wollte sehen, wie sich das ländliche Holland rein äußerlich von der französisch sprechenden Wallonie in Belgien, vielleicht auch von deutschen Landen unterscheidet.

Und ja, die bildschönen holländischen Puppenstubendörfer mit ihrem Hang zu gärtnerischer Perfektion sind mir schon fast ein bisschen zu viel. Vielleicht auch deshalb, weil ich das aus der ostdeutschen Provinz um Berlin herum nicht gerade gewöhnt bin.

Umso abrupter bemerkt man auch ohne sichtbare Grenze, dass man plötzlich in Belgien ist. Und das nicht nur, weil der weiße Hinweispfeil auf blauen Grund unter den Verkehrsschildern so eigenartig selbstgemalt daherkommt.

Der Weg nach Lüttich führt durch ein ehemaliges Industriegebiet, deren Industriearchitektur sehr deutlich verrät, dass es hier bessere Tage gegeben hat. Die wenigen noch genutzten Gebäude dienen offenbar nur noch als überdachte Abstellflächen, produziert wird hier nicht mehr.

Bei der Annäherung an das Stadtzentrum fällt die schwarze Bevölkerung von Lüttich sofort auf. Ampelanlagen haben für die Fußgänger offenbar nur empfehlenden Charakter. Wenn ich bei Rot brav warte, wird mir immer wieder auf das Dach meines Autos geklopft, oft mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht. Kinderwagen werden meist gleich auf der Fahrbahn bugsiert, ein ständiges Ausweichen auf den engeren Bürgersteigen kann so vermieden werden. Respekt vor den Kraftfahrzeugen gibt es keinen, das Vertrauen, dass diese Rücksicht nehmen werden, scheint groß. Diese Szenerie erinnert mich stark an meine Afrikadurchquerung. Ja, ein ganzer Kontinent funktioniert so.

Beim Gang durch die Straßen einer einstmals blühenden Stadt, die Ihr Geld mit Kohle und Stahl, aber auch mit der Herstellung von Waffen verdiente, wähne ich mich in Athen, dass ich vor wenigen Jahren besuchte. Auch hier sind viele Geschäfte geschlossen und mit Brettern vernagelt. Herrliche Jugendstilfassaden warten traurig auf bessere Zeiten. Die Gerüste der Kathedrale scheinen schon seit Jahrzehnten zu stehen und man sieht nicht, was heute mehr Aufwand macht; die alten Mauern oder die langsam verrottenden Gerüste zu erhalten. Doch die Straßen und Gassen sind an diesem Vormittag voller Menschen. Frauen mit Kinderwagen und nebenher laufende Kleinkinder bestimmen das Stadtbild. Nur, was mich neben dem oft schlechten Zustand der Bausubstanz wirklich berührt hat: mehr als die Hälfte (!) sind in dieser Innenstadt schwarzer Hautfarbe, ein weiteres Viertel ganz offensichtlich arabisch-muslimischen Ursprungs. Ich habe mir auf mehreren Plätzen mal die Mühe gemacht und habe, eine kleine Statistik erhebend, durchgezählt. Und wirklich, hier sind durch Migration und Bevölkerungswachstum ganz offensichtlich Minderheiten zu Mehrheiten geworden. Ich habe nur gehofft, dass die weiße belgische Bevölkerung um diese Zeit in der Universität, der Schule oder auf der Arbeit gewesen sein muss. So drastisch kann sich doch eine europäische Stadt mit ihrer ganzen Bevölkerung nicht verändern?!

Der Unterschied zu Maastricht am Vortage konnte nicht krasser ausfallen. Und irgendwie wollte ich hier weg. Nicht weil ich Angst vor Migranten hatte, vor schwarzen schon gar nicht. Zu gut habe ich mich in Afrika mit lebenslustigen Menschen dieser Hautfarbe verstanden. Doch vor der so offensichtlichen Veränderung einer ganzen europäischen Großstadt, in der es durch bildungsferne Armutsmigration kaum noch eine wirtschaftlich maßgebende Kaufkraft gibt, die eine Stadt ökonomisch am Leben halten kann, hatte ich einen bedrückenden Respekt.

Und so bin ich mit sehr gemischten Gefühlen nach Deutschland zurückgefahren. Auch weil ich daran gedacht habe, dass mich in 14 afrikanischen Ländern so viele Familien angesprochen haben, ihre ältesten Söhne ganz planmäßig nach Europa, mehr und mehr aber nach Deutschland zu schicken, um durch vermeintliche Arbeit dann später Geld an die Angehörigen nach Hause schicken zu können. Durch das Zusammenlegen ganzer Familien ist auch die Sahara kein Hindernis mehr für eine Reise. Auch das Geld für die Schlepper über das Mittelmehr ist vorhanden. Wenn man dann noch vor Augen hat, dass es mittlerweile in Afrika 1,2 Milliarden Menschen gibt und die ungebremste Bevölkerungsentwicklung bis zum Jahr 2050 bei optimistischer Einschätzung eine Verdopplung voraussagt, werden die Probleme an Europas Außengrenzen, wie im Inneren unserer Länder, ins Unermessliche anwachsen - im vermeintlich „reicheren“ Deutschland vielleicht etwas später als im wirtschaftlich schwachen Belgien. Dass europäische Politik fast keinerlei Druck auf die vielen afrikanischen Diktatoren ausübt, um die wirklichen Fluchtursachen: Korruption, Armut, fehlende Bildung und eine völlig vernachlässigte Infrastruktur zu bekämpfen, ist mir völlig unverständlich. Davor komplett die Augen zu verschließen ist zutiefst egoistisch, eigentlich aber einfach nur dumm!

(siehe auch mein Buch „Allein durch Afrika“)

von websitebuilder 17 Feb., 2022
Text wird überarbeitet
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